Immer ist Herbst
Und der norwegische Sänger Morten Harket ist immer traurig / Von Oliver Fuchs
Norweger sind die einsamsten Menschen. Das Land bietet günstige Bedingungen für Kiefern und Fichten, die in der Seeluft bis zu 1000 Meter hoch wachsen. Außerdem gedeihen Preiselbeerbüsche, Wollgras und struppige Rentierflechten. Nicht so gut gedeihen allerdings Menschen – Norwegen ist das am dünnsten besiedelte Land Europas. Wie soll man da Freunde finden, wie jemanden, der einen liebt? Halt dich an deiner Liebe fest, denkt sich der Norweger, wenn er sie endlich gefunden hat, und zittert bei dem Gedanken, die Liebe könnte gleich wieder hinterm nächsten Preiselbeerbusch verschwinden. Dann bliebe ihm nichts, als den Mond anzuheulen in der stockdunklen Polarnacht.
Denken wir an die norwegische Popgruppe a-ha, haben wir sofort diesen gellenden, flehentlichen Ruf des Sängers Morten Harket im Ohr: „Stayyyyyyy“ – nicht weggehen, bittebittebitte bleib hier! Dieses „Stay“ ist so lang gezogen wie das Land Norwegen, Harket hört sich an wie ein Schlittenhund, wenn er es ausstößt, er singt nicht – er schluchzt.
So genau versteht man die Texte nicht, weil Harkets Gesang immer sehr tränenerstickt klingt, aber einmal heißt es ungefähr: „Stayyyyyyyyy on these roads... oooh Baby... I feel so weak... stay on, my love”. Und ein andermal, in dem Lied „Summer moved on“, noch markerschütternder: “Stayyyyyyyyyyy, don’t you walk awayyyyyyyyyyy“.
„Summer moved on“ beschreibt eine Art Mitte-September-Gefühl: im Freibad, dem Ozean des kleinen Mannes, wird noch mal Ball gespielt, vom Turm gesprungen und vor Freude gekreischt, alle tun so, als sei für immer Sommer. Nur einer merkt, dass das Kindergeschrei einen Tick stumpfer klingt als noch im August und dass, kaum wahrnehmbar, eine feine herbstliche Brise um die Bäume weht – es ist der blasse, dürre Junge mit Brille auf dem schwarzen Handtuch, ganz hinten in der Ecke. Er ist der Hypersensitive, der in jedem Lebensbereich Wetterfühlige. Doch was nützt ihm diese besondere Begabung? Nichts, sie macht ihn nur zum traurigsten Jungen im Freibad, in der ganzen Welt.
Morten Harket, der Prinz der Melancholie, in einem Münchner Hotelzimmer: Er sieht privat tatsächlich so aus wie in den Videos und auf den Plattencovern: wölfische Gesichtszüge (Modell junger, verspielter Wolf). Er ist auf eine gesunde Art blass, er wirkt dürr und dabei ungeheuer athletisch.
Doch was heißt hier privat? Morten Harket ist hier, um eine neue a-ha-Platte zu promoten. Doch über „die Band“ mag er nicht reden, Gespräche über „die Band“ scheinen ihn zu langweilen, womöglich langweilt ihn sogar „die Band“ selbst. Das ist schon mal sehr sympathisch.
Bei Fragen, die sein Privatleben betreffen, schaut Harket so, als hätte man ihm ein unsittliches Angebot gemacht – auch gut, wir freuen uns über jeden Star, der nicht ständig so tut, als müsste sich die Welt für den aktuellen Stand seiner Menschwerdung interessieren. Andere Künstler betonen bei solchen Anlässen gern, sie hätten mit ihrem jüngsten Album eine neue Seinsstufe erklommen – für Harket ist „How can I sleep with your voice in my head“ einfach ein „gutes Live-Album“, das nebenbei eine Werkschau darstellt. Das Wort „Greatest-Hits“ fände er wohl vulgär, aber es trifft die Sache. Schließlich gab es eine Zeit, in der aus fast allem, was aus seinem Mund kam, ein Hit wurde. Am Anfang 1985 die Hymne „Take on me“ mit dem hibbeligen Keyboard, dann das elegische „The sun always shines on TV“: Diese zwei Lieder genügten der Plattenfirma Warner, um ihre neue Entdeckung aus Norwegen weltweit in den Jugendzimmern zu etablieren. Morten Harket, der als Teenager ein zurückgezogenes Leben geführt und sich für Insekten und Orchideen interessiert hatte, war nun, mit 27, ein Teenie-Idol, ein Teil des Apparats. Er wusste nicht, wie ihm geschah.
Man habe einen Clown aus ihm machen wollen, eine Figur in den Träumen verwirrter junger Menschen, sagt er. Harket, von früher Kindheit an Klavierschüler, hatte, bis er 16 war, nicht gewusst, was das ist: Pop-Musik. Von Natur aus kein Kind von Fröhlichkeit, wurde er immer trauriger, je mehr Erfolg er mit a-ha hatte. Am Ende ließ er sich aus Protest gegen sich selbst eine Bravo-inkompatible Frisur schneiden, mit der er so aussah wie Gabriele Krone-Schmalz, die ehemalige Moskau-Korrespondentin der ARD. Und er sang „Dark is the night for all of us“, eine Zeile wie von Ingeborg Bachmann, große Depressions-Literatur.
„Norwegen“ heißt übersetzt: der Weg nach Norden, und der Norweger Morten Harket war am Ende seiner Reise in den Norden angekommen. Vielleicht war die Traurigkeit so groß geworden, dass sie sich nicht mehr in dreiminütige Lieder gießen ließ. Anfang der neunziger Jahre, die Teenager waren längst weitergezogen zur nächsten Attraktion, trennten sich a-ha.
Auch wir hielten den Fall für abgeschlossen, auch wir dachten, dass a-ha höchstens noch relevant sein würden im Kontext von „Nonstop–80ies-Feten-Hits“, bis sieben Jahre später „Minor Earth, Major Sky“ erschien und kurz darauf „Lifelines“. Zwei Alben mit Songs, die im Glanz erhabener Klassizität erstrahlten und ein komplett neues Licht auf die Vorgeschichte der Band warfen. Hatte nicht der große Depressive Ian Curtis von Joy Division in Morten Harket einen würdigen Nachfolger gefunden, war nicht im dürren jungen Morten Harket schon der dicke alte Brian Wilson erkennbar, der mehrere Jahre seines Lebens im Bett zubrachte, mit nichts als Finsternis um sich herum, in sich drin.
„Wir haben einen alten Brauch in Norwegen“, sagt Harket, „ein frisch gefangener Fisch bleibt erst mal sieben Tage in einem Tank liegen, bevor wir ihn essen.“ Das soll heißen? „Nun, wir brauchten sieben Jahre, um uns zu reinigen, um für die Band den richtigen Weg zu finden.“
Offenbar reden Norweger gern in Gleichnissen, vor allem aus dem kulinarischen Bereich. Über die achtziger Jahre sagt Harket: „Diese Zeit war eine riesige fünfstöckige Marzipantorte, zu viel klebrige Füllung, zu dünner Boden.“
Wahnsinnig gern würden wir ihm nun zu dem schmackhaften Apfelstreuselkuchen gratulieren, den seine Band mit den Zutaten der Marzipantorte bäckt, gern würden wir ihm sagen, dass a-ha im Moment gut gegen den kursierenden Achtziger-Revival-Wahn anspielen; dass sie ihr Comeback dazu nutzen, Korrekturen am amtlichen Geschichtsbild vorzunehmen; dass sie sogar dabei sind, über die eigene Geschichte zu siegen. Aber Morten Harket ist das alles schon wieder zu viel, er wollte ja gar nicht über „die Band“ sprechen. Er sagt: „Ach ja, die Band“.
Morten Harket hat Durst. Wir holen ihm ein Glas Leitungswasser aus dem Badezimmer. Münchner Wasser, angeblich das beste und reinste in Deutschland. Es scheint ihm zu schmecken, aber er will noch kein abschließendes Urteil abgeben: „Ich muss warten, wie sich das auf meinen Organismus auswirkt.“ Von San Pellegrino jedenfalls bekomme er Sodbrennen. Er redet jetzt nur noch übers Essen. Dinkel sei das beste Getreide, sagt er, so viel gesünder als Weizen.
„Der Dinkel ist das beste Getreide“, schrieb schon die Heilige Hildegard von Bingen in ihrer Abhandlung über das Heilfasten. „Und wenn einer so krank ist, dass er vor Krankheit nicht essen kann, dann nimm die besten Körner des Dinkels und koche sie in Wasser, und gib das dem Kranken zu essen, und es heilt ihn innerlich wie eine gute Salbe.“ Morten Harket spürt es: Vielleicht entsteht bald eine Dinkel-Bewegung.
Er ist nun wieder der dürre, blasse Junge im Freibad, der als Einziger merkt, dass der Sommer vorbei ist. Wir schauen aus dem Fenster und sehen, es wird Frühling. Morten Harket sieht das, was er immer sieht: den Herbst. Einen endlosen, zartbitteren Tag, Mitte September.
Quelle: SZ 12.04.2003
Ich hoffe, den hatten wir hier noch nicht